Ich habe das Vorrecht, das Albanien-Projekt von Schloss Klaus seit seinen Anfängen vor mehr als zwanzig Jahren begleiten zu dürfen. Aus dem ursprünglichen Flüchtlingsprojekt während des Kosovo-Krieges ist mittlerweile eine Freizeitarbeit im albanischen Erseka mit bis zu 2.000 Teilnehmern pro Jahr entstanden, sowie eine internationale sechsmonatige Kurzbibelschule mit Teilnehmern aus Albanien und der ganzen Welt. Ein altes Lagerhaus, das als Flüchtlingsunterkunft eingerichtet werden sollte, blieb nach Kriegsende ohne Verwendung und wurde schrittweise zu einem schönen, attraktiven Freizeitzentrum umgebaut.
So wie dieses Gebäude eine zweite Chance bekam, und zu einer früher nicht geahnten Schönheit und Verwendung geführt wurde, erleben wir in Albanien regelmäßig, wie auch Menschen eine zweite Chance bekommen.
Eines Tages standen zwei vernachlässigte Roma-Mädchen, Julie und Rosela, vor der Evangelischen Gemeinde in Erseka. Sie wurden von den Mitarbeitern nicht nur herzlich aufgenommen, sondern mehrere Jahre lang liebevoll betreut. Bei unseren Projektpartnern lernten sie lesen und schreiben, konnten sich in ihrer Persönlichkeit entwickeln und fanden durch den persönlichen Glauben an Jesus Christus Hoffnung und Perspektiven für ihr Leben. Diese Entwicklung mitzuerleben war für mich sehr bewegend. Aber das war noch nicht das Ende der Geschichte:
Wenige Jahre später standen vier Waisenkinder vor der Tür. Sie sollten auf mehrere Waisenhäuser im Land aufgeteilt werden. Die Christen in Erseka nahmen sich um diese Kinder an, und unerwartet sprach das Gericht unseren albanischen Projektpartnern das Sorgerecht für die Kinder zu. Aus diesen Anfängen ist eine Waisenarbeit entstanden, in der momentan zwölf Waisenkinder vollständig betreut werden, zusätzlich gibt es Nachmittagsbetreuung für Kinder aus schwierigen sozialen Verhältnissen.
Bei meinem letzten Besuch in Erseka konnte ich miterleben, wie diese Waisenkinder im Alltag betreut werden. Die beiden inzwischen erwachsenen Roma-Mädchen Julie und Rosela haben sich zu tragenden Mitarbeiterinnen entwickelt. Am Tag vor meinem Rückflug nach Österreich erzählte mir eine der beiden sehr bewegt, wie dankbar sie sei: „Ich habe so viel Liebe von den Christen und von Jesus Christus erfahren. Wenn ich daran denke, welche Chance mir Gott gegeben hat, fehlen mir die Worte und ich kann meine Dankbarkeit nicht in Worte fassen! Dass uns Gott trotz unseres hoffnungslosen, zerbrochenen Hintergrundes so geführt und uns Türen geöffnet hat, übersteigt all unser Begreifen…“
Aus menschlicher Sicht waren diese beiden Roma-Mädchen in ihrer Gesellschaft nicht viel wert, und menschlich gesehen hatten sie keine Hoffnung auf ein gutes, positives Leben. Wie ermutigend ist demgegenüber die klare Aussage in der Bibel über Gottes Sichtweise: „Der Mensch sieht, was vor Augen ist, aber Gott sieht das Herz an“ (1. Samuel 16,7). Das ist in mehrfacher Hinsicht befreiend:
Einerseits gibt uns Gott eine Chance, wo uns Menschen keine Chance geben. In unserer Gesellschaft gibt es ganz bestimmte Vorstellungen davon, wie man sein muss um wertvoll zu sein. Diesen menschlichen Standard erreichen viele von uns nicht immer. Aber Gott sieht uns ganz anders, er liebt uns so, wie wir sind.
Andererseits brauchen wir Gott nichts vorzumachen, er kennt uns ja sowieso bis in unser tiefstes Inneres. Und weil wir ihm nichts vormachen können, müssen wir uns auch nicht damit abmühen. Er kann gut mit unseren Schwächen, unseren Fehlern, unserem Versagen umgehen. Das einzige, was Gott hier von uns fordert ist, dass wir damit zu ihm kommen, dass wir alles, was uns von ihm trennt, bei ihm abgeben.
Hier schließt sich der Kreis: Die unantastbare Menschenwürde, der unermessliche Wert, den die sogenannte „hoffnungslose Fälle“ in Albanien erhalten hatten, gilt auch uns. Jedem von uns. Unabhängig von unseren Schwächen, Fehlern und Defiziten liegen unser Wert und unsere Würde darin begründet, dass uns Gott unendlich liebt und uns so annimmt, wie wir sind. Bei ihm sind wir mit all unseren Defiziten bestens aufgehoben.